Eine Vorweihnachtsgeschichte: 1.Teil Heute morgen stieg ich in den Zug

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Eine vorweihnachtliche Geschichte  in zwei Teilen*

1. Teil: Alle Leute in der S-Bahn kommen sich sehr beobachtet vor

* verfasst durch eine Transkription von Band

 



Heute morgen steige ich in den Zug. Ich habe diese Sonntagnacht nicht geschlafen. Ich habe nicht einmal gelegen. Mein Fahrrad lehnt im ersten Abteil gegen die hochgeklappten Sitze und wird von einem RadGurt gehalten. Und ich lasse inzwischen immer meine Tasche in dem Fahrradkorb, trotzdem ich mich vom Fahrrad weg in eine Sitzgruppe setze. Ich könnte mich auch auf die Klappplätze gegenüber setzen, damit ich diese Tasche und das Rad im Auge behalten kann.

Aber es stellte sich heraus, dass sich die Leute in der S-Bahn alle sehr beobachtet vorkommen,
so dass eine offenliegende Tasche nicht zum Anlass genommen wird, ihr Besitzer würde sie unbemerkt lassen. Eben weil sie offen sichtbar liegt. Wer stiehlt schon die Mäntel von schlafenden Passagieren aus den Gepäckfächern darüber? 
Die Beine übereinanderzuschlagen, wie in Europa üblich, blieb mir verwehrt, weil ein Bankier oder ein anderer Vertreter der Macht, den Platz gegenüber mit seinem Wirtschaftsblatt eingenommen hat. Also schlage ich ein Bein behende über den rechten Sitz und lehne meinen Rücken gegen die Scheibe. Meine nasse Jacke hänge ich in die Handhalterung am Gang.
Die Kälte im Zug übersteigt nicht die Außentemperatur, trotz des feuchten Wetters; die Scheibe ist jedoch sehr kalt im Rücken. Eine Station weiter, spiele ich an meinem Handy gerade ein Java-Game, als sich wie üblich die Türen zur Station öffnen und Leute in den Zug schleusen. Ein alter Mann steht neben meinem Sitz und giert auf meinen Platz. Einen Moment lang berechne ich im Augenwinkel die viel größere Platzmenge im Vierer nebenan und wundere mich, daß der alte Sack auf den Platz mit dem Bankier und mir zu steuert, als ich schon den vermeintlichen Grund erkenne: Mein leger hochgelegter Fuß. Er spricht mich nämlich sehr undeutlich an:
   Ob der Sitz wohl so, wie ich säße, bequem sei.
   Ob meine Haltung denn bequem sei.
Er wirkt ein wenig schrullig, wie er das sagt, als ob er „einer alten Schule“ gerecht werden will. „Sowas macht man nicht“, schwingt in seinem undeutlichen, weil leise gesprochenen, Worten mit. Er ist ein wenig aufbürstend, wie er da eine Geste des Wegfegens macht, die übergeht in eine Geste des Ausholens zu z.B. einer Backpfeife. Diese energischen Bewegungen veranlassen mich verblüfft, weil übermüdet,  überrascht über seine Vorstellung und meiner geringen Widerstandsfähigkeit gegen soziale Kontraktionen in Sozialschläuchen, vergaat auf meine Seite zu rutschen. Ein bischen belämmert sitze ich nun da, kassiere einen Blick vom Bänker, der von seiner Zeitung kurz hochblickt, als wolle er sagen, recht hat er eigentlich schon, der alte Herr!

Ich war in der Hitlerjugend und hatte keine Uniform an

Die Türen der S-Bahn schließen sich mit dem entsprechenden Pfeifen und die S-Bahn fährt gerade an, als mich der Alte von der Seite anspricht. Er ballt seine Fäuste und spannt seine Rentnerbrust, schaut durch seine gelbe Brille und feiert:
   „Ich hab Kraft im Arm, in beiden. Wenn ich will dann geht das. Ich übe sowas. Einmal kam einer auf mich zu, und den hab ich jetreten.“
Er hebt irre sein rechtes Bein in den Gang als wollte er jemand im sitzen treten. Er schaut es an, senkt es wieder und fährt so, ungefragt und wider meines abstoßenden Gesichtsaudrucks, fort:
   „Ich kann jemand in die Weichteile treten, im Stehen, bis hier hin“,
dabei markiert er mit der Hand eine Stelle an seiner Jacke. Er bestätigt es mit einem Nicken und sagt verschmitzt:
   „In die EIER!“
Dann grinst er breit, reißt sein Maul auf und ich erkenne, daß er kaum noch vernünftige Zähne hat. Nur noch Zahnhälse und Stümpfe in allen Farben des Sonnenunterganges. Es macht einen Eindruck auf mich als ob er ein Penner wäre. Wie er mich anredet, 20cm von meinem Gesicht entfernt, mit dem offenen Mund, erwarte ich förmlich den Schwall an Gestank.
Es tritt nicht ein. - Der Typ hatte sich gewaschen und irgendwie geschafft, dass sein Maul nicht wie eine Mumie riecht. Es schwingt vielleicht ein leichter Duft von Alkohol mit. - Aha, denke ich, eine einsamer Alkie, der jetzt sein Mitteilungsbedürfnis in mitleiderregender Form bei mir ablässt.
Ich habe bloß gehofft, das er im nächsten Moment seine Fanfaren einpackte, weil sein sein Grinsen nun  kurz verebbte und er mechanisch nach vorne schaute. Doch dann wird er wieder energisch, reißt seine Zeitung hoch, auf dem Titelblatt ganz viele eingesogene Regentropfenund das Konterfei von Klaus Wowereit, der seinen Partner umarmt. Ruckartig redet er mich an, mit einem leichten Plattdeutsch:
   „Kennste den? Weißte watt dat für eine is?
   Ist das ne warme? Ne warme?
   oder is dat ne kalte bruder? Hä?
   Sowat, ne, jabet lang nit, so kääls, ne.
   Wenn so eyne Kerl Dich aufdringlich kommt. Dann musst du das Messer zustechen.
   Ich hab einens mit Holz, das hab ich nie gebraucht, einmal vielleicht.“

Er wirkt dabei imemr unzusammenhängender,
   „Wenn man Frauen sowas antut, "Schlagen" und so, dann kommt sofort Blaulicht.
   Die Bullen helfen ja auch.
   Dehalb versteck ich das Messer immer gut.
   Hör mal mit 75 muss man das schon. Ich war ganz unten drin.
   Da kommst du nicht mehr raus.“

Ich bleibe hinter dem Zusammenhang hinterher und Blicke nun auf den Boden. Ich habe immernoch mein Handy in der Hand und in mir reift der Gedanke ein Video auzuzeichnen.
Da schüttelt er seinen Kopf leicht und als ob er einen Absatz fortfahren würde leitete er ein: 
  „Da ging dat dann … Judenvernichtung. Ja! - Sowerum
  <Grummel grummel>
  mit Knüppel druff, ne.
  <Grummel grummel >
  Dann woren so wo se hinjehören, dat die leute da mitjemacht haben, 
  Die jroßen, ne,  woren überall.
  Da war wer wegkommen, wer glück hatte,
   dann in der tiefste Keller, war janz unten, da kommen die rein, da machste nix mehr.
 <Grummel grummel >
  Wir hatten da zuhaus,  -mein Vatter war metzger - , wir hatten gasvergiftung.
   Da hatt keyner nach jefrogt.  
   Und Vater und seine  Juden das waren sechs Leute, ne, metzgerei,
   und ich sag hörens ma, ne, mit sechs kommter in Knast, das nur vorausjesetzt,
   und nur einer kommt noch wieder.
   Und der jeht noch.  
   Einer kann besuchen  - wir haben nur da jeschuftet.
   Könnsich das vorstellen?
   Nur einer kommt zu mir.
   Dann waren se am ende doch fleißig.  
   – und ich war in der Hitlerjugend und hatte keine Uniform an.“

Er bekommt nach seiner ruhigen Rede ein Gesicht wie eine Eule, als warte er auf eine Reaktion von mir; auf einen Kommentar.
  „Und die Uniform? Uniform?
  Warum hast  du keine Uniform.
  Da war ich en paar taag einjesperrt, soch ich, was los, ne? –
  Aber et get ja jetz immer weiter.
   Dat muss alles wegjonn dat geld.
   Ob das jetzt der Kriech ist oder nitt.
  Aber dat kann man jetzt anders machen.
  Watt haässt du dänn jemacht?“

Ich sage:
 „Ich hab Ersatzdienst gemacht. Ich hab damit nichts zu tun“

Da lacht er und legt seine Zähne frei:
  „Dat hatse juut jemacht, alle Achtung“ .



Und morgen gibt es den zweiten Teil der Vorweihnachtsgeschichte.

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