Wie man ganz einfach neue Leute kennenlernt

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Manchmal bin ich spät unterwegs. Spät heißt zwischen zehn und und zwölf Uhr mittags. Ich bin schon zu jeder Zeit mal mit der Bahn gefahren, aber es gibt bestimmte Zeiten die sollte man meiden. - Aus den verschiedensten Gründen und persönlichen Dispositionen
Vor sieben Uhr fahren die Jungs mit den Bierdosen, danach die mit den Pappbechern mit Kaffee vom Bahnhofskiosk, dann die mit den bei Starbucks gekauften Thermobechern und dann beginnt auch die Zeit, in der weibliche Fahrgäste proportional stärker in die Bahn steigen.

Ja wo fährst Du denn auch lang, Henoth, dass da so ein Volk dein Bahnabteil zuschwitzt, werdet ihr fragen, was sind das für Leute, mit denen Du dich umgibst?
Und ja, ich könnte sagen, es ist immer die gleiche Strecke, aber ich jahrelang durchfuhr - zwei Hauptbahnhöfe mit der Regionalbahn. Aber worauf ich hinaus will ist ja nicht, dass ich immer die selben Gesichter sehe, sondern, das der Typus Bahnfahrer mit der Uhrzeit korelliert.

"Ich hab schon alles gesehen"-Onkelmärchen will ich euch eigentlich ersparen, denn ihr könnt euch denken, dass der Sozialschlauch für einen Daily Commuter keine Überraschungen mehr bereithalten kann. So habe ich bis heute auch gedacht. Ich habe gedacht mit den nachmittäglichen Fahrten in der S-Bahn an einer Behinderten-Werkstatt entlang, in einem sozial schwachen Viertel hätte ich bereits schon den Tiefpunkt des Fahrgastkomforts erreicht.
Ich hatte gedacht, in dem Moment nachmittags im Hochsommer, wenn die Bahn nicht weiterfahren kann und man mit den Kunstledersitzen verschmilzt, als sich im Doppelsitz gegenüber die Heroinjunkies gegenseitig übertreffen, in dem sie mit ihrem Finger lachend ihre Adern aus ihren Armebeugen pulen während zwei Trisomie-21-Teenager aus der Behindertenwerkstatt sich lautstark über ihre sexuellen Nonkonformitäten austauschen, da habe ich gedacht, ich hab alles gesehenund gehört.
Als am Bahnsteig eines Hauptahnhofes, bei strahlendem Wetter und morgendlichem Berufsverkehr eine Reisegruppe von 14 Radfahrern in Radfahrerhosen, Radhelmen, Radsonnenbrillen und Radfahrergürteltrinkflaschen mit Gepäcktaschen an den Tourenrädern mit Kartenständer am Lenkrad in das kleine Abteil für Gepäck, Rollstuhlfahrer und Räder militant einsteigen wollten und lautstark auf ihr verkacktes Recht zur Mitnahme von einer Tonne Fahrrädern bestanden, da habe ich bereits mit der Klugheit und Weitsicht von Nutzern dieses Transportmittel abgeschlossen. Wer regelmäßig Bahn fährt, dem bleibt nichts erspart.

Ich dachte ich habe schon alles gesehen aber heute kam etwas neues hinzu. Zunächst bestieg ich den Regionalzug, legte meinen Mantel, wie gewöhnlich in die obere Gepäckablage und setzte mich ans Fenster eines leeren Viererplatzes. Der Zug war für elf Uhr normal gefüllt, das bedeutet er war nahezu leer. Da ich in dieser Typklasse Zug leider durch meine Körpergröße nicht in den normalen Sitzen Platz nehmen kann, weil entweder meine Knie vorne anstoßen oder meine Füße eingeklemmt sind, wähle ich bei jeder Fahrt, so weit es mir möglich ist, den Viererplatz. Denn dort kann man sich im gegensatz mit der harten Plastikschiene eines Sitzes prima mit seinem Gegenüber auf die Beinverteilung einigen. Meistens gilt aber auch hier: Wer zuerst sitzt, bestimmt die Grenze. Ganz ähnlichen wie auf den Tischen in der Schule früher.

Völlig vertieft in meine Lese-Beschäftigung fällt mir der Mann nicht auf, der schnaufend schnellen Schrittes das Zugabteil durchschreitet. Erst als er an meiner Sitzgruppe halt macht, sehe ich, dass in seinem linken, mir zugewandten Auge, ein Äderchen geplatzt sein muss, weil seine Lederhaut rot schimmert. Na, der Kontrolleur wird das wohl kaum sein. Was kann dieser Mann wollen, habe ich noch gedacht als ich meinen Blick wieder senke, um mich wieder in meine beschäftigung zu vertiefen.
Der Zug ist inzwischen schon in voller Geschwindigkeit und fährt über Weichen, dass der Mann sich festhalten muss, als der Waggong seitlich versetzt. Plötzlich redet er:

"DAS DA IST MEIN PLATZ."
Ich schaue den Mann an.

"SIE SITZEN AUF MEINEM PLATZ."
Ich bin völlig perplex und muss ein bischen auch lachen:
"Wie bitte?"

"SIE HABEN SICH EINFACH AUF MEINEN PLATZ GESETZT."
Er bekommt einen weinerlichen Ton, als er das Possessivpronomen ausspricht, aber ich sehe, es ist weil er vor Wut überschäumt, und so klingt es wenn er sich zurückhält. Er steht mit seinem roten Auge in einem alten T-Shirt vor mir und hat bereits in seinen jungen Jahren eine sehr hohe Stirn bekommen. Seine ansonsten kleinen Schweinsäuglein funkeln  mich an.

"JETZT SITZEN SIE AUF MEINEM PLATZ. WAS SOLL DAS? UND WO IST MEINE JACKE DIE HATTE ICH HIER OBEN DRAUF GELEGT."
Ich versuche sein Motiv zu verstehen, abzuwägen ob er mich nur ärgern oder provozieren will, oder ob ich tatsächlich auf seinem Platz sitze. Aber da fällt mir ein:
"Entschuldigen sie, das ist ein Zug, da kann man sitzen wo man will. Es gibt keine Platznummern, die man hätte reservieren können."
Er fingert unterdessen an meinem Mantel in der Gepäckablage:
"Ich habe meinen Mantel da oben drauf gelegt,", sage ich und nehme ihn an mich. Nicht dass dies noch ein scam ist, in dieser ziemlich leeren Bahn.

"JA AUF MEINE JACKE UND SIE SITZEN AUF MEINEM PLATZ. DAS IST ÜBRIGENS AUCH MEINE ZEITUNG."
Er deutet auf den Sitz gegenüber, ein loses Konvolut Blätter einer alten Zeitung, wovon die Hälfte bereits am Boden liegt soll ihm gehören. Ich muss laut lachen, wie ein Kind stampfte er dabei auf und ich stelle mir vor, wie Rauch aus seinen Ohren kommt. Jemand in seinem Alter, mit der Kleidung, der Zeitungen vom Boden klaubt und während der Fahrt seine Jacke alleine im Gepäckfach lässt um auf die Zugtoilette zu gehen, der kann einem schon begegnen, aber das sind dann sehr zerstreute Menschen. Dieser hier war anders.

"ICH WAR NUR GERADE AUF DER TOILETTE UND ICH KOMME ZURÜCK UND SIE SITZEN AUF MEINEM PLATZ."
"Hahaha", lache ich unverblümt, "ein Platz im zug hier kann keinem gehören. Wie soll ich denn wissen, dass dies ihr Platz ist? Woran sol ich das denn erkennen", er deutet nur auf die zerknitterte Zeitung und sagt:
"WEIL DAS MEINE ZEITUNG IST"
Hinter mir in den Reihen höre ich unterdrücktes Lachen. Aber mir wird es zu bunt.
"Aber Zeitungen liegen überall in Zügen, das ist doch Schwachsinn"


"DAS IST MEIN PLATZ, WO ICH GESESSEN HABE." wiederholt er und schnauft.
Ich fasse mir an den Kopf. Ich schaue mich um und im gesamten Abteil sind vielleicht acht Personen. Er hätte überall Platz nehmen können. Sogar einfach mir gegenüber im Vierer.
"Sind sie noch normal? Das habe ich ja noch nie erlebt."
Ein Junge hinter mir mit Kopfhörern lacht hörbar.
"Ich lasse ihnen den Platz nur zu gerne, aber so etwas habe ich wirklich noch nicht erlebt."

"MEIN PLATZ", sagt der Mann und setzt sich schnell auf die frei gewordene Stelle im komplett leeren Vierer, den ich verlasse. Ich schaue in die resignierenden Gesichter der anderen Abteilnutzer. Manche sind von dieser Posse amüsiert, aber alle bleiben distanziert. Ich setze mich in einen anderen Vierer und fahre von da aus unbehelligt weiter.

Ich komme zu dem Schluss, dass der Mann gestört sein muss. Geystus crank. Ein Irrer. So gequetscht, wie er sprach, so merkwürdig wie er gekleidet war, so beharrlich, wie er auf etwas sinnentleertes bestand und vor allem, und da wurde es mir völlig klar, bei welcher Uhrzeit er reist. Der muss behindert sein.




1 Kommentare:

w3ltenstrogg hat gesagt…

Aber Henoth, fragen wir, warum hast Du denn keine klare Kante gezeigt?

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