DER DISTRIKT (1)

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DER DISTRIKT 

Ein utopischer Roman

DER DISTRIKT (0) - Prolog
DER DISTRIKT (1) - Erstes Kapitel
DER DISTRIKT (2) - Zweites Kapitel
DER DISTRIKT (3) - Drittes Kapitel
DER DISTRIKT (4) - Epilog



Erstes Kapitel


Jan hatte keinen Treuekonflikt darin erblicken können, dass er Angaben über außerdienstliche Interessen das Nachbars machte. Alle Bürger hatten die Pflicht, jegliche Normabweichung, von der sie Kenntnis bekamen, sofort zu melden.

 Wenn er überhaupt an Dills Standpunkt dachte, dann nur, dass es zu seinem Besten geschah. Man musste ihn stoppen bevor er sich in etwas verrennt, aus dem er nicht mehr herauskommt. Dill war merkwürdig geworden. Es war sein direkter Nachbar und es stand gut mit der gegenseitigen familiären Freundschaft. Trotzdem war eine Veränderung im Gange. Es war etwas wichtiges für Dill, es war etwas bewegendes, wenn er erzählte. Man traf  sich nicht nur zufällig vor dem haus, sondern auch mal auf ein synthetisiertes Malzbier. Dill war etwas jünger als Jan und in einer höheren Qualifikation  eingestuft. Dennoch bestand zwischen beiden ein magisches Band. Etwas war wirklich etwas magisches, denn über das, was Jan so interessant an Dill fand, wurde nie ein Wort verloren.
 Es war ein ruhiger Nachmittag als Jan von der Frühschicht zurückkehrte und Dill im Garten traf, wie einige Vermessungen mit einem Zollstock anfertigte. Er bewegte sich recht ungeschickt mit dem Maßband und rutschte auf Knien über seinen Rasen, zur Straße und schätzte den Rest der Entfernung mit dem Auge ab. Er fixierte einen Punkt vor Jans Haus und drehte sich dann um es zu notieren. „Dill, sag mal was machst Du da?“ Jan war verwirrt. Obwohl er in letzter Zeit mehrfach Zeuge geworden war von Dills verrückten Ideen hat er es immer nur für Flausen gehalten. Selbst als Dill erzählte er wolle einen Radiosender mit einer selbstgebauten Antenne anhören, der nicht vom Distrikt verwaltet wurde, hielt er es nicht für einen ernstzunehmenden Vorschlag. Wahrscheinlich gibt es gar keine Radiosender außerhalb des Distrikts, hatte er bei sich gedacht.

 Dill zeigte sich beschäftigt und winkte ab. So kam Jan näher und blickte ihm über die Schulter. Dill stellte Berechnungen an. Irgendwelche Kurven und Geraden, irgendwelche Winkel und das alles in deren Vorgärten. Jan war interessiert: „Eine neue Rasenkante ist es nicht?“ Dill ließ sich nicht ablenken und rechnete alles im Kopf. „Dill, du bist heute irgendwie..sag mal wo sind eigentlich deine Frau und deine Kinder?“ Jan rückte auch nicht ab, ehe er eine Erklärung bekam oder zumindest seine Aufmerksamkeit.

 Dill drehte sich zu Jan und fing sofort an zu erklären: „Hier wird bald etwas vom Distrikt gebaut werden.“ Jan runzelt die Stirn, „Aber was soll hier denn noch gebaut werden? Ich meine, hier ist doch Haus an Haus gebaut?“ und lacht.  Dill sieht ihn an und legt einen Arm auf seine Schulter, ihm bedeutend, dass er ein Stück mitgehen soll. Dabei beugt er sich etwas nach vorne und spricht nun leiser: „Jan, es geht hier um etwas ganz anderes. Der Distrikt will hier so etwas wie eine Überführung der Urethankolonnen hinlegen.“ Dill bekam große Augen und blieb sehr ernst. Es musste ihn erschüttert haben, denn seine Stimme zitterte. Sein faltiges Gesicht lag heute noch mehr in Falten. Jan fragte sich nur woher Dill das alles schon wieder wusste. „Ich bin etwas auf der Spur, aber ich kann dir nichts sagen, bevor ich nicht alles sicher weiß.“ Jetzt blieb Jan stehen. Er hielt ihn für verrückt – warum sollte hier etwas gebaut werden, wo doch Familienwohnungen hier stehen. Jan fragt ihn danach. Dill  hatte die Antwort natürlich parat gehabt, doch Christine ruft ihn in diesem Augenblick zu. „Jan! Willst du nicht reinkommen? Was machst Du denn noch?“ „Ja, mein Schatz ich komme gleich! – Entschuldige Dill, erzähl weiter. Aber Dill war schon wieder in anderer Stimmung. „Ich will dich da nicht mit reinziehen, weißt du.“ Jan war wie vor den Kopf geschlagen. Es war also doch etwas ernsteres? „Der Distrikt hat mir die Stelle gekürzt und ich will in einen anderen Distrikt. Weg von hier. Ich habe versucht, das ganze offiziell zu machen, doch...“ Er unterbricht und legt die Finder an seine Stirn. Jan sieht ihn weiter fassungslos an. „Na ja, ich muss jetzt erst mal zur Verwaltung. Wir können uns vielleicht heute Abend darüber , bei einem SynthMalz auslassen.“ Er dreht sich schnell weg und geht eilig sein Material einsammeln. Jan stand immer noch an der selben Stelle. Es hat ihn aus dem Gleichgewicht geworfen, dass Dill, sein direkter Nachbar und guter Bekannter nun mehr das Abbild seiner selbst war. Jan bildete sich ein Dill hätte eine Glatze bekommen. Schütteres Haar hatte er immer schon.

* * *

Die Schicht war endlich vorbei ! Jan schiebt sich durch die Ausgangsspindel, vorbei am Pförtner und lässt den Arbeitstag hinter sich. Gemächlich bewältigt er auch noch den Weg bis zu seiner Wohnzelle wo ihn die Ruhe in ihrer greifbarsten Form Erwartet, seine Frau und ein von ihr gewärmtes Bett.
So schweifen seine Gedanken voraus und lassen ihn geistig die letzten Meter des Nachhausewegs mit riesigen Schritten bewältigen, als er plötzlich an der letzten Biegung stehen bleiben muss, um einen Gerätewagen und ein großes Bauzelt direkt vor seinem Wohnstock, auszumachen.
Als er des Morgens zur Arbeit gefahren war, bemerkte er nur am Rande die 2-3 Vermessungstechniker, welche Vermessungsreflektoren auf den Asphalt vor dem Gebäude klebten jetzt jedoch um einiges zahlreicher vertreten waren Sie hatten wohl einen Arbeitsauftrag größeren Ausmaßes durchzuführen, wenn sie um diese Zeit noch Bauscheinwerfer auf die Fassade des Wohnstocks richteten und neuaufgestellte Schaltautomaten mit einem Innenleben aus Kupferwolframsynthesedraht und Schaltern versahen.

Im Trieb der Müdigkeit war es ihm jedoch gleichgültig was da vor seinem Wohnappartement vorging, ihn hätte wohl der Nationalkongress gelbsüchtiger Rikschafahrer samt ihrer Familien unbeeindruckt gelassen.

Jedenfalls dachte er schon seit längerem nicht mehr an die grüngrauen Arbeiter vor dem Fenster als er sich verschwitzt und schlapp aus den Armen seiner liebsten Löste und sich zum Schlafen ausstreckte.

Der Morgen brachte diese jedoch rasch wieder in Erinnerung, da um 0600 ein Presslufthammer- und Hydroschaberkonzert einsetzte, welches ihn unsanft dem Schlaf entriss.

Er ließ es sich nicht nehmen einen zynischen Kommentar in Richtung des Orga Zeltes zu schicken, welcher jedoch sicherlich auch ohne den audiblen Einfluss des Presslufthammerstakkatos ungehört geblieben wäre.

Wie gehabt findet Jan am  darauffolgenden Arbeitstag eine erneute Arbeiterkolonne vor seinem Haus vor und lässt sich von seiner Frau berichten, die Arbeit hätte nicht mal für 5 Minuten dieses Tages stillgestanden. Ameisen, Termiten des Konzern waren diese Arbeiter
gewesen.

Christine berichtete in dieser Woche noch mehrfach von Hausbegehungen durch die Ingenieure. Sie haben sich aber nicht Gasanschlüsse oder Fernwärme sehen wollen, auch nicht den Vid-Anschluss oder das Telefon. Nach Christine wollten sie den kleinen Garten sehen, der eigentlich nicht mehr als ein Hinterhof ist. Weiter hätten sich die Herren für die Baumaterialien des Hauses interessiert.  Jan nahm davon erst nur Notiz, doch dann wurde er regelmäßig durch die Vibro und Pressluftgeräte geweckt.


Es war nicht leicht das zu verstehen – für einen Außenstehenden. Aber Jan machte sich ein paar Gedanken mehr über die Situation. Er hatte ein Sixpack SynthMalz in der Hand als er die Entdeckung  machte. Dill, sein Nachbar, war nicht mehr da. Nicht nur, dass er einfach nicht im Hause wäre. Nein das Haus war leer und nicht darin. Keine Notiz oder ein Hinweis auf einen Umzug. Kein Lärm beim Auszug oder, dass man den Auszug je bemerkt hätte. Seine gesamte Einrichtung, sein Mobiliar und alle an der Wand befestigten Gegenstände hinterließen nur einen hellen Fleck an der Wand. Er und seine Familie müssen in der Nacht ausgezogen sein. Keiner hatte etwas vorher erwähnt oder eine Andeutung gemacht.

Es war Jan suspekt, dass er einen weitern Blick durch die Scheibe der Fronttür warf. Die Tür war offen. Jan betrat die Wohnung mit vorsichtigem Schritt.
„Hallo? – Hallo? Dill? Ist jemand zuhause?“ – Keine Regung im ganzen haus schallt es nur nach seinen Worten.
Selbst der Gasanschluss ist entfernt worden. Aber Fachmännisch und wahrscheinlich vom Verteilernetz angehangen. Die Steckdosen liegen nun blank und die Drähte schauen heraus. Es gibt ein Bild wie kurz vor einer Renovierung. Oder einem Abriss.
Jan findet keinen Hinweis auf irgendetwas und kehrt mit dem SynthMalz zu Christine zurück. Dill muss seine Versetzung in einen anderen Distrikt wohl irgendwie verwirklicht haben, denkt er bei sich.


* * *


Jan schraubt an einem Fernregelventil die Schlusskappe ab. Karl steh dabei und beobachtet ihn. Es ist gerade die Pause vorbei und beide verdauen noch ihre mitgebrachte Nahrung. Es gibt zwar die Möglichkeit das Zentralessen per Rohrpost zu bestellen, aber die meisten ziehen vorbereitetes  Essen vor. Nicht alle Betriebe erlauben das und in manchen Betrieben muss man sogar die Mahlzeit essen, da wichtige Stoffe enthalten sind, die vor Gefahren mit den Werkstoffen schützen sollen.
 „Du siehst heute gar nicht gut aus Karl“, Jan wollte von sich ablenken. Karl grämt sich und fährt mit der Hand durch sein Gesicht. Dabei gähnt er und reibt sich den Bart. „Ich muss unbedingt aus dieser Schicht raus, Jan!“ Sein Blick hat ein wenig an Kraft verloren, sein Gesicht verleiht ihm den Ausdruck von Hilflosigkeit.

 Jan freut sich innerlich. ‚Eine versteckte Gemeinsamkeit’ denkt er. ‚Zwar auf einer anderen Ebene, aber das jeder hat das Grundlegende Problem in sich verkörpert. Man bringt es nur anders zum Ausdruck.’

 Es gibt ein Signal. Jan lässt sein Werkstück liegen und beide gehen mit wehender Schutzkleidung in die Schaltzentrale. Im Raum riecht es dumpf nach Elektronik und überlasteten Schaltkreisen.
Es stehen ungewöhnlich viele Personen im Raum. Als erstes stechen die zwei fremden Männer aus der Masse; beide wohl unabhängig voneinander eingetroffen. Der eine hat schütteres Haar und einen W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z.-Aufnäher auf seinem Windbreaker. Jan steht für die erste Sekunde, die er die Menge gemustert hat im leeren Kosmos: Der Mensch in der Jacke kam ihm besonders merkwürdig vor. Aber auf eine Weise die man als ein DejaVu einstufen würde. Jan könnte schwören diesen Mann einmal gesehen zu haben.

 Aber natürlich ist er ihm völlig unbekannt und man stellt sich förmlich vor. Der Anlass war eine Fehlfunktion in den Gas-Zwischenleitungen. Keiner ahnte warum diese Störungen periodisch auftraten oder warum sich Betriebsfremde Personen einfanden. Wahrscheinlich muss der Mann als Sachverarbeiter den Zustand selbst überprüfen und eine Werksspionage oder ähnliches ausschließen.
 Dieses Problem der Werksspionage. Die Gefahr der Spionage wird immanent gehalten. Es wird öffentlich davor gewarnt und mit höchsten Sanktionen verhängt. Es gibt eine explizite Liste aller Umstände die eine Werksspionage einschließen.

 Jan unterhielt sich mit dem ersten Vorarbeiter und diktiert ihm eine Aufgabe. Aus dem Lager bestimmte Werkzeuge und von den Materialien Eisenbleche und am besten ein Schweißgerät. Es wird ins Detail gegangen; man stellt sich die Frage ob vorgefertigte Bleche nicht besser wären.
 Im Gespräch mit dem Vorarbeiter blickt Jan durch den Raum und kreuzt den Blick mit dem Fremdling. Er ist in diesem Moment stumm und lässt einen Blick in seine Augen zu. In seine Seele. Jan erkennt ‚jemand’. Er hebt den Finger und will etwas rufen.  Der Fremde blickt wieder zu seinem Gespräch und lässt sein Gesichtsfeld hinter seine Nebenmänner verschwinden.

 Jan ist wieder in seinem leeren Gedanken-Kosmos, doch diesmal unfreiwillig gefangen. Er geht Gesichter durch, die er kennt. Auch entfernte Bekannte und andere Schichten. Er geht das Personal durch und schließlich das Service-Personal. Jan fühlt eine Verbundenheit, eine alte Bekanntschaft, ein Band, das nicht gelöst wurde, sondern das in Vergessenheit geraten war. Doch er kann ihn nicht zuordnen.

 Karl kommt vom Gespräch mit den beiden Männern zu Jan, schiebt seine Brille höher und fragt ihn: „Die wollen wissen, wer für den Bereich zuständig ist. Ich hab ihm gesagt, dass unsere Schicht das übernimmt.“ Die Personen im Hintergrund halten mit ihrem Gespräch mit den Köpfen über den Schaltplänen inne und drehen sich zu Jan. Der eine guckt gedankenversunken und der ominöse ‚Jemand’ steht nur untätig dabei. „Wir haben bereits die Rohre gestoppt und die Schlosser benachrichtigt.“

 Karl tut gute Arbeit damit die Schlosser die Sache erledigen zu lassen. Dennoch löst das nicht das Problem, dass ich deswegen der W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. hier einfindet, denkt Jan bei sich. „Wenn ihr wollt gehen wir mal zu dieser Stelle und sehen es uns vor Ort an“, schlug Jan vor um ein wenig Dynamik in die Runde zu bekommen; vielleicht könnte man etwas herausbekommen. „Das halte ich für eine schlechte Idee“ , der Rangobere der beiden schaltet sich ein und kommt nun vom Tresen her näher zu Jan, um im Gespräch wieder mitzumischen: „Wir haben die Fakten des Schadens bereits urkundlich festgehalten und der Unfallort ist vorschriftsmäßig zwei Stunden gesperrt. Ich denke nicht, dass wir dort eine erneute Beweisaufnahme vornehmen sollten, Herr VanGaater.“ Der Mann schärfte seinen Ton. Der andere schrieb stumm etwas auf seinem digitalen Klemmbrett nieder.
Jan fühlt sich unsicher und verzieht die Augenbrauen. Sein schroffes Gegenüber festigt seinen Blick auf Jan, als sei er ihm eine Antwort schuldig. Die Arbeit im Raum geht stetig weiter. Alle Kolonnen laufen weiter, es wurde die Leitung provisorisch mit anderen Rohren umgangen. Um das zu bewerkstelligen musste Karl am Morgen diese Leitungen mit Dampf spülen lassen, damit kein anderes Produkt im Rohr bleibt. Schichtarbeiter sitzen vor den Bildschirmen und lesen die Werte der Messsonden ab; einige schreiben übersteuerte Bereiche um den Bezirk der Unfallstelle. Jan liest ebenfalls die Werte mit einem flüchtigen Blick ab und ändert seine Einstellung zur Situation: „Entschuldigen Sie, ich möchte Sie in Ihren Investigationen nicht behindern, aber im Moment habe ich eine Anlage zu fahren. Und im Moment“, Jan zeigt mit einem Finger auf den Bildschirm neben sich, „sieht es schlecht aus.“ Jans Anspannung löst sich, sein Selbstvertrauen gibt ihm einen Schub und er setzt nach: „Also würden Sie bitte mich und meine Schicht für die Zeit in Ruhe lassen und bitte sehen Sie zu, dass die Sperre aufgehoben wird, damit meine Schlosser die Leitungen reparieren können.“ In diesem Moment trifft eine laute Stimme das Gehör von Jan: „Also so wie ich das sehe versuchen Sie unsere Kollegen vom W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. zu vergraulen und das wollen wir doch nicht?“ Es ist Hinterfürth, der sichtlich erregt versucht sich bei den Aufsehern einzuschleimen. Jan dreht sich aber dennoch erschrocken zur Seite und Hinterfürth schreitet an ihm vorbei. „Bitte folgen Sie mir ich werde ihnen für alles behilflich sein. Sollten Sie fragen an meine Kollegen haben, dann werden ich sie für Sie natürlich im Einzelgespräch ausrufen lassen.“ Sein schmieriges Grinsen verzieht sich zu einer Grimasse. Er breitet seine Arme aus als wolle er beide aus der Messwarte schieben. „Folgen Sie mir nur ich werde ihnen alles Zeigen. Die Herren?“ Er weist mit einer Hand zur Tür.

 Der schroffe der beiden löst nun mit sichtlichem Unbehagen seine verschränkte Position, löst seinen Einfluss auf Jan und dreht sich um. Der andere, in den Augen von Jan immer noch sehr merkwürdig, stoppt seinen Bericht und trottet ebenfalls in Richtung Tür.

 Als beide in der Tür verschwinden dreht sich Hinterfürth noch einmal um und ruft zu Jan: „Und Sie sehe ich nachher in meinem Büro!“ Und verschwindet ebenfalls in der Tür.


* * *

Jan schaute sich in der nun stillen Messwarte um. Sogar die anderen Arbeiter waren verstummt und manche von den Besprechungen mit dem W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. noch nicht zurückgekehrt, als die beiden Maschinisten die Anlage wieder einschalteten und das Licht in der Warte wieder heller dimmten. Sie starrten alle noch auf die Monitore, wartend auf eine Reaktion der Kurven. Als eine positive Reaktion abzulesen war, drehten sie sich zuerst zu Jan um, der am Hauptpult stand und nervös von einem Bein zum anderen wechselte. Noch nicht an seine Führung in Fragen der Organisation gewöhnt, wünschten sie seinen Kommentar zur Lage. Aber er war ohne Programm. Er freute sich nur, dass die Anlage wieder lief wie vorher, der Kloß in seinem Magen von der Szene am Mittag hatte sich dennoch nicht gelöst. Schlimmer noch, er hatte sich Gedanken darum gemacht. Vier Stunden unglaubliche Anspannung. Hektik und Planung Jeden Augenblick rechneten sie damit, dass eine Maschine erneut ausfällt. Jeder Moment wurde für die Feinabstimmung genutzt. Aber jetzt machte sich eine Atmosphäre der Entschlossenheit bemerkbar. Die Schicht hatte das Problem gelöst. „Ich muss sagen nicht schlecht gemacht.“ Karl dreht sich mit seinem Stuhl und legt den Kugelschreiber beiseite. Stimmung kommt auf und die acht Mann im Raum klatschen einen Beifall, als ob der Pilot das Flugzeug sicher zur Landung gebracht hätte. Jan fühlte sich Stolz. Für einen Moment hatte er alles andere Vergessen.

Jan lockert seine Arbeitskleidung. Er ging früher zum Abteilungsleiter als er eigentlich für sich festgelegt hatte. Seine Stimmung hatte sich dem gegenüber verbessert und er ging sogar wieder etwas überschwänglicher. Einen Augenblick sehnte er sich nach der Vergangenheit, als noch nicht die Last des Schichtführers auf seinen Schultern lag, als die Gespräche mit dem Leiter noch nicht an der Tagesordnung waren. Das Leben als einfacher Schichtarbeiter mochte eingefahren gewesen sein, aber man hatte auch nichts zu befürchten gehabt.

 Er klopfte diesmal laut und drückte den Messinggriff herunter. Im Zimmer stand Hinterfürth mit hochrotem Kopf und Schweiß auf der Stirn. Vergraben in seiner Arbeit blickte er hoch und warf einige Zettel vom Tisch, die sich zu anderen am Boden gesellten. „Herein! Herein! – Setzen bitte!“ Er kramte seine Unordnung auf dem Tisch zu einem Haufen zusammen, den er zur Seite schob. „Das was heute Mittag passiert ist, kann für den Betrieb, für mich und auch für Sie Konsequenzen bedeuten, das wissen Sie?“ Jan, der sich gerade erst gesetzt hatte schaut seinen Abteilungsleiter ungläubig an. „Die vom W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. kommen hier nicht rein umsonst rein, Herr VanGaater. „Nein, diese Leute haben irgendetwas herausgefunden, was mich beunruhigt.“ Er macht eine Pause und legt seine Hände vor sich auf den Tisch. Die Ärmel seines Hemdes sind hochgekrempelt und seine Krawatte ist offen. Er sieht mitgenommen aus, als hätte er das gesamte Archiv durchwühlt und danach wieder sortiert. „Ich will Ihnen sagen, dass wir hier im Betrieb schließlich unter einer Decke stecken, sind Sie sich dessen bewusst? Ich möchte nicht, dass wegen eines kleinen Unfalls jemand indiziert wird. Ich meine wenn wir zusammenhalten können um die Anlage wieder auf Vordermann zu bringen, dann können wir zwei doch auch zusammenhalten um die Belegschaft aus dem Sichtfeld unserer Kontrolleure zu verlagern.“

 Jan wurde klar, das hatte etwas zu bedeuten, was nicht auf seinem Mist gewachsen war. Es ging um Hinterfürth. Es war etwas im Busch und er sollte involviert werden. „Diese Herren haben erstaunliche Arbeit geleistet.“ Jan wirft ein: „Haben diese Herren auch den Ursprung des Rohrsdefekts herleiten können?“ Hinterfürth lehnt sich zurück und wischt, nachdem er sich von seiner Aufregung ein wenig erholt hatte, mit einem Stofftuch den Schweiß von der Stirn. „Im eigentlichen Sinne bin ich schon weiter als Sie.“ sagt er. Dabei macht er eine Handbewegung und zieht mit der anderen Hand sein Bein näher zu sich, dass er über das andere geschlagen hatte. Mit einem belehrenden Ton: „Sie sind noch immer bei dem Problem von heute Mittag, doch wissen Sie warum die Herren heute Mittag wirklich hier gewesen sind?“ Wieder der Blick über den Schreibtisch. Gewolltes Legen der Situation – der Chef spricht zu seinem dummen Untergebenen. „Sie haben einiges an Papierkram durchwühlt und sind von den Datenbänken, bis zu den Magnetbändern und Psychogrammen alles durchgegangen. Wissen das passt mir nicht. In meiner Anlage gibt es diese Zwischenfälle nicht. Ich habe eine reine Weste.“ Dabei sieht er unmerklich zur Seite. „Ich möchte hier alles im Fluss halten. Ich denke, dass es auch in Ihrem Interesse ist Herr VanGaater. Nach der einmaligen Rettungsaktion von heute Mittag-“ Sein Ausdruck bekam wieder den schmierigen Unterton. Es war in der Tat etwas faul. Keine Lobreden, oder Heldentümer werden umsonst vergeben. Und es war nicht seine eigene Leistung gewesen. Jan wurde besser hingestellt als seine Leistung zu ließ. „-möchte ich, dass Sie zu neuen Höhen Aufschwingen. Ihr Bonusgehalt, dass Sie bei mir verspielt hatten könnte noch drin sein.“ Der Ernst seiner Stimme hatte diese ganze Situation skurril gemacht. Keine Ausbrüche oder sarkastischen Bemerkungen. Wer hier der Bittsteller war, wurde nun deutlich, obwohl Hinterfürth es anders verpacken wollte. „Sie brauchen mich, VanGaater, Sie brauchen mich. Und Sie können etwas für mich tun. Eine Hand wäscht doch schließlich die andere!“ Ungeahnte Freundlichkeit - menschliche Solidarität mit dem Vorgesetzten oder letzte Rettung durch den Untergebenen? „Sind Sie gewillt etwas für Ihren Betrieb zu tun?“ Das ist eine Frage wie sie zur Kategorie der Rhetorischen Fragen gehört, mit dem Hintergrund der Drohung, aber freundlich; zumindest gespielt freundlich. Jan macht eine bejahende Bewegung. Eher zögerlich aber zustimmend. „Wissen Sie eigentlich habe ich Sie immerschon geschätzt, ähh.. Jan – ich darf doch Jan sagen, oder?“ Das war zunächst eine glatte Lüge. Eine infame Lüge gekoppelt mit einem dreisten Versuch eine Scheinfreundschaft aufzubauen. In Jan schürte sich das Unbehagen.  Hinterfürth legte es weiter drauf an: „ Der Trakt in dem der Unfall passiert war ist nun von dem Produkt verseucht. Ich habe bereits der Leitung einen Bericht erstattet und die müssen sich nun mit den Formalitäten herumschlagen. Dass diese beiden Herren heute in der Messwarte standen, kann nur bedeuten, dass Sie die Unreinheiten im Bericht schneller entdeckt haben, als ich gedacht hatte.“ Das war nun wirklich spektakulär: Der Abteilungsleiter ist in krummen Angelegenheiten verwickelt. „Ich möchte Ihnen ans Herz legen, das weder den Arbeitern noch den Berichten, noch den Offiziellen zu vermitteln. Es geht nur um uns beide. Verstanden?“ Nun war die Katze aus dem Sack. Er lehnte sich nach vorne, faltete seine Hände und auch sein Ton wurde wieder schärfer. „Ich möchte es nicht so hart formulieren, aber um unser aller bestes zu erhalten sollten Sie sich etwas ausdenken damit wir nicht alle den schwarzen Peter zugeschoben bekommen. Das bringt uns nur schlechte Promotionen. Ich dachte, dass Sie dem aufsichtsführenden Anlagenfahrer einen Kompetenzfehler in den Wochenbericht schreiben. Wir verstehen uns – das ist eine Sache die nur uns beide etwas angeht. Wenn der Laden hier Probleme bekommt haben sie uns schließlich alle am Schlafittchen.“ Jan zeigt erst mal keine Reaktion. Er dreht seinen Kopf zur Seite und blickt zur Uhr an der Wand um diesen Gedanken zu verdrängen. er hatte Angst. Nicht die panische Angst sondern die Vorahnung vor etwas. „Sehen Sie die Sache so: Für Sie ändert sich nichts. Nur der Bericht sollte so ausfallen, dass wir unseren Tumor in der Mannschaft präsentieren können, den der W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. auseinandernehmen kann. Anstelle von Ihnen zum Beispiel.“ Jan blieb kein ‚Nein’ übrig, aber auch eine Zustimmung wäre verbunden mit Firmenbetrug. Das war entschieden gegen die Bestimmungen. Ein Kloß bildete sich wieder in seinem Inneren, er erinnert sich: Der aufsichtführende Fahrer war sein bester Kollege Karl!






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